Liebe Leserin, lieber Leser,
Denn von Zion wird Weisung ausgehen und des HERRN Wort von Jerusalem. Er wird unter vielen Völkern richten und mächtige Nationen zurechtweisen in fernen Landen. Sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen machen und ihre Spieße zu Sicheln.
Es wird kein Volk wider das andere das Schwert erheben, und sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen. Ein jeder wird unter seinem Weinstock und Feigenbaum wohnen, und niemand wird sie schrecken. Denn der Mund des HERRN Zebaoth hat's geredet.
Micha 4,1-5
Was für eine tröstliche Vision ist das, die uns die Bibel im Buch Micha (und auch im Buch Jesaja) vor Augen malt! Ein gerechter Richter, der die großen und mächtigen Nationen der Erde zurechtweist. Die Großmannssucht der Gernegroßen nimmt ein Ende – aber es bleibt nicht bei der Ermahnung.
„Sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen machen und ihre Spieße zu Sicheln.“
Die Soldaten und die Heerführer – sie legen ihre Waffen selbst nieder. Die Schwerter und Spieße werden zu Werkzeugen des Ackerbaus. Die Erde darf wieder Quelle des Lebens und der Nahrung sein, nicht Zankapfel der Nationen. Die ABC-Waffen werden entschärft, auseinandergenommen, eingeschmolzen.
„Es wird kein Volk wider das andere das Schwert erheben, und sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen.“
Die großen Militärstrategen der Weltgeschichte – von Caesar bis Clauswewitz –
verstauben in den Bibliotheken. Ihr Wissen ist nicht mehr gefragt. Die Meisterschaft im Niederschlagen und Besiegen hat keine Zukunft mehr.
„Ein jeder wird unter seinem Weinstock und Feigenbaum wohnen, und niemand wird sie schrecken.“
Fort ist alles, was den Krieg zur Möglichkeit machte. Fort sind die Waffen und die Heere. Aber viel wichtiger noch: Fort ist die Angst. Die Angst vor dem Anderen. Die Angst vor dem Zu-kurz-Kommen. Die Angst um das eigene Leben. Kein nationaler Stolz wird mehr geknickt.
Jetzt ist alles weggenommen, was ihn aufhalten kann: Den Frieden. Ein echter Friede ist das, kein Waffenstillstand, kein diplomatisches Gleichgewicht der Kräfte. Sondern allumfassender Frieden, ohne Sieger und Besiegte.
Wie schön.
Und wie fern.
Unsere Realität zurzeit ist angereichert mit Bildern anderer Art. Bilder von verwüsteten Kliniken. Weinende Kindergesichter an schmutzigen Busscheiben. Staub, Blut, Patronenhülsen. Horrorszenarien von roten Knöpfen.
Nicht erst seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine erscheint die biblische Hoffnungsvision wie ein ferner Traum – nur am Rande sei daran erinnert, dass russische Bomben bereits im syrischen Bürgerkrieg auf Krankenhäuser und Schulen fielen. Dass im Jemen nach wie vor ein grausamer Krieg tobt, der möglicherweise die aktuell schlimmste humanitäre Krise befeuert.
Und dennoch wage ich zu behaupten: Das biblische Hoffnungsbild ist auf seine Weise hoch realistisch.
Zum ersten zeigt sich daran nämlich: Der echte Frieden, der wirklich ewig andauert, liegt in Gottes Hand. Die Bibel ist in ihrem Menschenbild hart, aber klar: Jeder Friede, den Menschen schaffen können, ist vorläufig und gefährdet – selbst wenn die Waffen ruhen, lauert immer die (mal mehr, mal weniger berechtigte) Angst im Hintergrund, der andere könnte meine naive Schwäche ausnutzen.
Zum zweiten: Dennoch muss der Traum vom Frieden keine naive Utopie sein. Dennoch sind wir Menschen der kalten Logik der Waffen und der vermeintlichen geopolitischen Notwendigkeiten nicht hilflos ausgeliefert. Das wussten die mutigen Christinnen und Christen in DDR und BRD, die sich seit 1980 das Motto „Schwerter zu Pflugscharen“ als Aufnäher auf die Kleidung hefteten. Als Motiv wählten sie ausgerechnet eine Skulptur, die ein sowjetischer Künstler für die Vereinten Nationen angefertigt hatte – noch heute steht die Skulptur vor dem UNO-Hauptquartier in New York. Die Kritik der Aktivistinnen und Aktivisten richtete sich gegen die Aufrüstung auf beiden Seiten.
Mag sein, dass die damalige Situation nur bedingt auf die heutige Weltlage übertragbar ist – hier ist nicht der Ort, diese Frage zu diskutieren.
Zum Mindesten wird das biblische Hoffnungsbild uns aber daran erinnern müssen: Jeder im Krieg abgefeuerte Schuss, jeder Euro an Rüstungsausgaben, jede abgeworfene Bombe kann im besten Fall ein Notbehelf sein, um Schlimmeres zu verhindern – Frieden im biblischen Sinne schafft all das nicht.
Echter Friede beginnt da, wo Feindschaft endet. Wie das auf der geopolitischen Bühne funktionieren soll? Ich traue mir darüber kein Urteil zu. Wie das aber im Alltag, in der Familie, in unserer Kirchengemeinde anfangen könnte, davon kann vielleicht der Apostel Paulus eine Idee geben:
Segnet, die euch verfolgen; segnet und fluchet nicht. Freut euch mit den Fröhlichen und weint mit den Weinenden. Habt einerlei Sinn untereinander. Trachtet nicht nach hohen Dingen, sondern haltet euch herunter zu den Niedrigen. Haltet euch nicht selbst für klug. Vergeltet niemand Böses mit Bösem. Fleißigt euch der Ehrbarkeit gegen jedermann. Ist es möglich, soviel an euch ist, so habt mit allen Menschen Frieden. Rächet euch selber nicht, meine Liebsten, sondern gebet Raum dem Zorn Gottes; denn es steht geschrieben: "Die Rache ist mein; ich will vergelten, spricht der HERR." So nun deinen Feind hungert, so speise ihn; dürstet ihn, so tränke ihn. Wenn du das tust, so wirst du feurige Kohlen auf sein Haupt sammeln. Lass dich nicht das Böse überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem.
Röm 12,14-21
Severin Wagner, Vikar